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Fahrzeugbeschaffung für autonome Fahrtests

  • manuel5020
  • 22. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 24. Okt.

fahrzeugbeschaffung für autonome fahrtests

Die Entwicklung autonomer Fahrfunktionen stellt die Automobilindustrie und Technologieunternehmen vor immense technische und regulatorische Herausforderungen. Ein fundamentaler und oft unterschätzter Aspekt dieses Prozesses ist die strategische Beschaffung und Konfiguration der Testfahrzeuge. Diese Fahrzeuge sind nicht nur einfache Träger von Sensoren und Rechenplattformen; sie sind vielmehr hochkomplexe, mobile Labore, deren Spezifikationen den Erfolg der gesamten Entwicklungs- und Validierungsstrategie maßgeblich beeinflussen. Die Anforderungen an diese Flotten unterscheiden sich signifikant von denen an Serienfahrzeuge und erfordern spezialisierte Beschaffungsansätze.


Die multidimensionale Anforderungslandschaft


Die Spezifikation von Testträgern für autonomes Fahren muss eine Vielzahl von technischen, operativen, sicherheitstechnischen und rechtlichen Kriterien erfüllen. Die Komplexität ergibt sich aus der Notwendigkeit, ein Serienfahrzeug so zu modifizieren oder ein Spezialfahrzeug so zu entwickeln, dass es einerseits die autonome Fahraufgabe bewältigen kann und andererseits alle notwendigen Test- und Sicherheitsfunktionen integriert.


Technische und funktionale Anforderungen


Die Kernanforderung an jedes Testfahrzeug ist die reibungslose Integration der autonomen Fahr-Hardware und -Software. Dies umfasst:


  • Sensorik und Redundanz: Die Fahrzeuge müssen Platz und die notwendige elektrische Leistung für eine umfassende Sensor-Suite bieten, bestehend aus Lidar-Systemen, Radar-Einheiten, hochauflösenden Kameras und ggf. Ultraschallsensoren. Für die notwendige funktionale Sicherheit ist oft eine redundante Auslegung von kritischen Sensoren und Systemen erforderlich.

  • Rechenleistung und Datenerfassung: Es ist eine leistungsstarke Rechenplattform notwendig, die in der Lage ist, die massiven Datenströme der Sensorik in Echtzeit zu verarbeiten, die Umgebungswahrnehmung (Perzeption) zu gewährleisten und die Fahrpfadplanung sowie Aktuatorik zu steuern. Zusätzlich sind umfangreiche Speichersysteme zur Datenprotokollierung für die spätere Analyse und die Trainingsdaten-Erstellung (Data-Logging) unverzichtbar. Der benötigte Speicherplatz kann schnell in den Petabyte-Bereich pro Fahrzeug gehen, was hohe Anforderungen an Speichermedien und Dateninfrastruktur stellt.

  • Fahrzeug-Schnittstellen und Aktuatorik: Um die Kontrolle vom menschlichen Fahrer auf das autonome System zu übertragen, sind spezielle Schnittstellen zu den kritischen Fahrzeugsystemen (Lenkung, Bremsen, Beschleunigung) notwendig. Diese müssen die By-Wire-Steuerung mit hoher Präzision und minimaler Latenz ermöglichen, wobei Rückfall-Ebenen (Fallback) für den Fall eines Systemausfalls zu berücksichtigen sind.

  • Erweiterte Kühlung und Energieversorgung: Die hohe Rechenleistung und die Vielzahl an Sensoren erzeugen erhebliche Abwärme und benötigen eine deutlich höhere elektrische Leistung als konventionelle Fahrzeuge. Die Testfahrzeuge erfordern daher oft modifizierte oder zusätzliche Kühlsysteme und eine verstärkte Bordnetzinfrastruktur.


Operative und sicherheitstechnische Aspekte


Während der Erprobungsphase auf öffentlichen Straßen oder geschlossenen Testgeländen stehen Sicherheit und Betriebsfähigkeit im Vordergrund.

  • Sicherheitsfahrer-Arbeitsplatz (Operator-Station): Die meisten Testfahrzeuge, insbesondere auf niedrigeren Automatisierungsstufen (Level 3 und darunter), erfordern die Anwesenheit eines Sicherheitsfahrers (Operator oder Testfahrer). Dieser benötigt eine klar definierte Schnittstelle zur Überwachung des autonomen Systems und zur sofortigen Übernahme der Steuerung im Bedarfsfall. Dies umfasst Notschalter und eine klare Visualisierung des Systemstatus.

  • Modifikationsfähigkeit und Wartbarkeit: Die Beschaffung muss Fahrzeuge berücksichtigen, die modifikationsfreundlich sind, da sich die Algorithmen und die Sensorik während der Entwicklung schnell ändern. Einfacher Zugang zu Komponenten, standardisierte Schnittstellen und eine hohe Wartungsfreundlichkeit minimieren Stillstandszeiten und Entwicklungskosten.

  • Globale Homologation und Regulierung: Die Fahrzeuge müssen die nationalen und internationalen Zulassungsvorschriften für den jeweiligen Betriebsbereich erfüllen. Angesichts der dynamischen Rechtslage (z. B. in Deutschland die Regelungen zur Genehmigung und zum Betrieb von Kraftfahrzeugen mit autonomer Fahrfunktion) ist die Auswahl von Plattformen, die eine flexible Typgenehmigung oder Einzelerprobungsgenehmigung ermöglichen, entscheidend.


Beschaffungsmodelle und -strategien


Angesichts dieser speziellen Anforderungen existieren verschiedene Beschaffungsstrategien, die je nach Entwicklungsphase, finanziellem Rahmen und Entwicklungsfokus gewählt werden.


Der Basis-Fahrzeug-Ansatz


Viele Unternehmen entscheiden sich für die Umrüstung von Serienfahrzeugen.

  1. Vorteile: Geringere Anfangsinvestition in die Karosserie, bekannte Plattformen, etablierte Ersatzteillieferketten und vereinfachte Grundzulassung.

  2. Nachteile: Begrenzte Schnittstellen zu den kritischen Steuergeräten (Steer-, Brake-By-Wire), erhebliche mechanische und elektrische Umbauten notwendig, was zeitaufwendig und teuer sein kann. Die nachträgliche Integration der benötigten Rechenplattformen und Kühlsysteme erfordert tiefgreifende Eingriffe in die Fahrzeugarchitektur.


Der Spezialfahrzeug-Ansatz


Für fortgeschrittenere Stufen des autonomen Fahrens oder spezielle Anwendungsfälle (z. B. Level 4/5 Shuttles) kann die Entwicklung einer speziellen Testplattform erforderlich sein.

  1. Vorteile: Optimale Integration der Sensorik und Rechenhardware von Grund auf, volle Kontrolle über alle Fahrzeugschnittstellen (By-Wire), maximale Flexibilität in der Systemarchitektur.

  2. Nachteile: Extrem hohe Entwicklungskosten und -zeit, komplexer Genehmigungsprozess für das Basisfahrzeug, Aufbau einer eigenen Ersatzteil- und Wartungskette.


Strategien für die Flottenzusammenstellung


Unabhängig vom Basis-Fahrzeug-Ansatz sind die gängigen Beschaffungsstrategien (Single, Dual, Multiple Sourcing) auch auf die Testflotte übertragbar, jedoch mit spezifischen Implikationen:

  • Single Sourcing: Beschaffung aller Testfahrzeuge von einem einzigen Fahrzeughersteller oder Zulieferer. Dies ermöglicht eine Vereinheitlichung der Schnittstellen und der Wartungsprozesse, birgt jedoch das Risiko, von einem Lieferanten abhängig zu sein, insbesondere wenn es um die Bereitstellung spezifischer By-Wire-Schnittstellen geht.

  • Dual/Multiple Sourcing: Der Einsatz von Fahrzeugen verschiedener Hersteller oder Modelle. Dies erhöht die Robustheit der Entwicklung durch das Testen in unterschiedlichen Umgebungen (Fahrzeugdynamik, Eigengeräusche, etc.) und mindert das Lieferkettenrisiko. Es erfordert jedoch einen erheblich größeren Aufwand bei der Portierung der autonomen Software auf unterschiedliche Hardware-Architekturen.


Die Rolle von Ökosystem und Partnern


Die Beschaffung für autonome Fahrtests ist selten ein isolierter Prozess. Sie ist eingebettet in ein komplexes Ökosystem von Zulieferern und spezialisierten Partnern.


Zusammenarbeit mit Zulieferern (Tier 1/2)


Spezialisierte Automobilzulieferer (Tier-1 und Tier-2) spielen eine entscheidende Rolle, da sie oft die Schlüsselkomponenten (Sensoren, Hochleistungsrechner, By-Wire-Module) liefern, die in die Testfahrzeuge integriert werden müssen. Die Beschaffungsstrategie muss hier eine enge Kooperation und gemeinsame Validierung der Komponenten umfassen, um die funktionale Sicherheit des Gesamtsystems zu gewährleisten. Die Auswahl von Komponenten, die bereits in der Serie erprobt sind oder die einen klaren Pfad zur Serie aufweisen, ist vorteilhaft, um die spätere Überführung in die Massenproduktion zu erleichtern.


Externe Dienstleister für Umbau und Betrieb


Aufgrund der Komplexität der Umbauten lagern viele Entwickler die Fahrzeugmodifikation an spezialisierte Dienstleister aus. Diese übernehmen die Integration der Hardware, Verkabelung, Kühlung und die Installation des Operator-Arbeitsplatzes. Auch der Flottenbetrieb (Wartung, Logistik, Betrieb der Testfahrer) wird oft extern vergeben, um die Entwicklungsteams maximal auf die Softwareentwicklung zu fokussieren. Eine klare Definition der Service Level Agreements (SLAs) und der Datenhoheit ist in diesem Fall unerlässlich.


Zukünftige Herausforderungen und Ausblick


Die Dynamik der Technologie und der Regulierung beeinflusst die Beschaffung kontinuierlich.


Software-definierte Fahrzeuge


Der Trend zum software-definierten Fahrzeug (SDV) vereinfacht zukünftig die Beschaffung, da die Zugriffsmöglichkeiten auf die fahrzeuginterne Steuerung zunehmen. Testflotten, die auf modernen E/E-Architekturen (Elektrik/Elektronik) basieren, bieten bessere, standardisierte Schnittstellen und erleichtern die Over-the-Air (OTA) Updates der Software, was die Flexibilität und Effizienz der Tests erhöht.


Virtualisierung und Simulation


Um die Abhängigkeit von physischen Testfahrzeugen zu reduzieren und Kosten zu senken, wird die Verlagerung von Testfällen in die virtuelle Welt immer wichtiger. Die Beschaffungsstrategie muss daher auch die Korrelation der realen Testflotten-Daten mit den simulierten Umgebungen sicherstellen. Nur durch eine valide Datengrundlage können virtuelle Testverfahren einen Ersatz für reale Fahrkilometer darstellen.


Kosten und Skalierbarkeit


Die Kosten für die Hardware (Lidar, HPCs) sind weiterhin hoch. Eine langfristige Beschaffungsstrategie muss die Skalierbarkeit der Flotte berücksichtigen, um den Übergang von einer kleinen Prototypenflotte zu einer größeren Validierungsflotte (z. B. 100+ Fahrzeuge) effizient und kostengünstig zu gestalten. Die Modularisierung der Hardware und die Wiederverwendbarkeit von Komponenten sind hier Schlüsselkriterien.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Fahrzeugbeschaffung für autonome Fahrtests ein komplexer, strategischer Prozess ist, der über die reine Kaufentscheidung hinausgeht. Er erfordert die nahtlose Verbindung von Fahrzeugtechnik, Softwarearchitektur, Sicherheitsanforderungen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Eine gut durchdachte Strategie ist ein kritischer Erfolgsfaktor für die schnelle und sichere Überführung autonomer Fahrfunktionen in die Serie.

 
 
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